Die Nacht über hat es geregnet und in den Vormittag hinein tröpfelt der Monsun. Der Himmel ist ein grau-blau-silbernes Mandala, als ich mich auf den Weg nach Osten mache, zum Tempel Pashupatinath. Es ist eine höchst heilige Stätte, am Fluss Bagmati und ich bin mit gemischten Gefühlen unterwegs. Einerseits deswegen, weil dies die letzte Station für viele Hindus ist; ihre Leichen werden hier verbrannt und ihre Asche dem Fluss übergeben, andererseits weil mein letzter ganzer Tag in Kathmandu angebrochen ist und ich mir nicht sicher bin, ob dieses Krematorium der richtige Abschluss für eine sehr positive Woche ist. Andererseits soll die Tempelanlage beeindruckend sein und den Weg finde ich, weil ich ihn schon einmal gegangen bin, als ich zum Boudhnath unterwegs war.
Der Nieselregen und der heutige Feiertag ergeben eine seltsame Mischung, die Straßen sind merklich ruhiger. Am Fahrrand haben sich tiefe Lacken aus Wasser und Schlamm gesammelt und man tut gut daran, Abstand zu halten.
Ich erreiche den Tempelvorhof noch vor Mittag, die dominierenden Farben sind Gelb und Orange und in den Stromkabeln turnen Affen. Rundköpfige Blumenopfer werden am Straßenrand neben Mangos und Litschis verkauft, sonst fehlt auch der übliche touristische Tand nicht. Ich komme bis zu dem Vorplatz des Tempelkomplexes und werde dezent darauf hingewiesen, dass 1000 Rupien zu entrichten sind (den Hauptteil der Anlage darf ich als Nicht-Hindu aber nicht betreten), wenn ich weiter möchte. Seit Mitte April 2013 ist der Eintritt heraufgesetzt worden und ich nehme die Summe als Zeichen dafür, nicht zu zahlen, sondern meine Zeit anderwärtig zu vertreiben.
Auf der Suche nach Schutz vor dem Dauerregen setze ich mich unter das Vordach des Hauses am Eingang und hole mein Tagebuch heraus. Kaum habe ich angefangen zu schreiben, steht ein Mädchen neben mir und starrt auf den Kugelschreiber. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber sie hat das Bild vom Durbar Square entdeckt, das ich gestern gezeichnet habe, und deutet mit ihren rotgefärbten Fingern darauf. Das bezaubernste Lächeln faltet sich über ihr Gesicht und ich reiße eine Seite aus dem Büchlein, um einen Affen für sie zu zeichnen. Es folgt ein Pferd, eine Katze, einige Mäuschen und Vögel, ein Haus und schließlich ein Elefant. Zwei andere, ältere Mädchen sind dazugekommen und übersetzen mir die Wünsche der Kleinen, deren Name Asikhataba ist. Schließlich übernimmt sie selbst den Stift, zeichnet einen Papagei, ein Auto und einen Menschen. Als ich sie frage, ob sie mich gezeichnet hätte, lacht sie.
Während wir zeichnen, tauchen, was mich irritiert, immer wieder Männer auf, die höflich fragten, ob sie ein Foto von mir machen dürften. Einer setzt sich neben uns und gibt mir die Hand, während sein Freund ein Foto mit seinem Samsung macht und ich fühle mich wie die abgetakelte Präsidentin der Weißen Nasen, mit meinen monsunverwüsteten Haaren, der löchrigen Trainingsweste und den Converse, die hier in den staubigen Straßen völlig ihren Geist aufgegeben haben.
Als ich mich nach langer Zeit doch wieder auf den Heimweg mache, nicht ohne vorher die mangoverkaufende Mama eines der Mädchen kennen gelernt zu haben, bin ich unheimlich froh, dass der Name des Tempels zum guten Ohmen des Tages geworden war, Pashu Pati Nath, Gott des Lebens und des Lebendigen. Eine Zeichenstunde mit einigen der liebenswertesten Bewohnerinnen des Tempelbezirks also gegen das Miterleben einer Totenverbrennung, ein guter Tausch.
Am frühen Abend mache ich noch einmal einen Spaziergang hinaus. Die Stadt erwartet das morgige Festival und ist, jetzt da die späte Sonne doch noch durchkommt, wieder aufgewacht. Auf der New Road haben Straßenhändler ihre Stände aufgeschlagen und das ohnehin dichte Gedränge noch unterfeuert. Es gibt Gewand und Schuhe, präsentiert auf Tüchern, Tomaten, Ingwer, Sandelholz in geflochtenen Körben, dazwischen sitzen Schuhdoktoren, die mit zusammengezogenen Brauen nach meinem Schuhwerk blinzeln (aber da ist schon alles verloren), durch die Menge schieben sich Motorräder und Autos im Schritttempo, schneller geht es nicht. Ich lass mich in eine der Seitengassen treiben und merke, wie groß die Müdigkeit ist, die in mir steckt, die Müdigkeit von elf Tagen Reise. Es ist Zeit für ein Abschieds-Dhal Bhat, morgen geht es zurück in das heiße, geschäftige Delhi.