Das Frühstück am Dach wird besonders genossen, denn es ist das letzte Mal, dass ich in der feuchten Morgenluft hier oben sitze und die Liebeslieder aus dem alten Radioapparat höre, den sie mit Seidenblumen in die Blechbalken gebunden haben. Ich lasse mir die Cornflakes in ihrer Plastikschüssel und den viel zu süßen Kaffee im Pappbecherchen schmecken und plane meinen letzten Tag. Aus dem Gestrigen haben ich zweierlei aufgefrischt: 1.) Sei nicht während der Mittagszeit draußen, das hält der österreichisch geeichte Kreislauf nicht aus und 2.) sei nicht überfreundlich, wenn dich diverse Kerle anplaudern, weil sie dich wahrscheinlich als westliche Kuh mit goldenen Hörnern sehen.
Mit diesen Gedanken mache ich einen Spaziergang im vormittäglichen Paharganj. Die meisten Geschäfte richten gerade ihre Auslagen her, es wird gekehrt und geputzt und der eigene Abfall unter Schachteln geschaufelt und in Abflüsse gestopft. Ich vergesse das selbstverhängte Einkaufsembargo, bilde mir ein, dass sich mein Koffer durch bloße Willenskraft noch ausdehnen würde und kaufe noch zwei herrliche Tunikas inklusive Hosen und Schals um jeweils 150 Rupien.
Am frühen Nachmittag fahre ich denn in den weiten Süden, zur Qutb Minar, die Fahrt dauert fast 40 Minuten, aber wie schon erwähnt sind die Ubahnzüge klimatisiert und übersauber, darum ist es eine angenehme Reise. Weil ich bei meinem ersten Aufenthalt vor fast zwei Wochen schon einmal bei der Qutb Minar war (nur dass das Gelände damals schon geschlossen hatte, hier noch einmal ein herzliches Dankeschön an den motivierten Rikschafahrer, der mich damals hingebracht und sofort freimütig angeboten hat, mich wieder zur U-Bahn zu chauffieren), habe ich mir den Weg gemerkt und gehe ihn heute zu Fuß.
Dabei ist Zufußgehen hier in Delhi eine eher unangenehme Geschichte. In Kathmandu war es in Ordnung, am Straßenrand über die buckeligen und ziegelsteinigen Gehsteige zu stolpern, aber hier sind die Trottoirs oft kniehoch und meistens seitlich von Natur eingewuchert. Ich finde trotz der widrigen Umstände (und später soll es noch ungemütlicher werden) zu dem Komplex, zahle die obligatorischen 250 Rupien Eintritt und verbringe dann gute zwei Stunden damit, durch die Steinruinen zu spazieren und mir alles genau anzusehen.
Der Wachturm ist beeindruckend, 74 Meter hoch und ewige achthundert Jahre alt. Man fragt sich, wie um Himmelswillen damals so ein Kunstwerk geschaffen werden konnte. Die Form des Turmes ist dank seiner abwechselnden Fassade äußerst lebendig, die Koraninschriften und der Stuck machen ihn einzigartig schön. Ich setze mich auf eine der alten Mauern und beobachte die anderen Gäste, fast ausschließlich indische Gesichter, die ihren Spaß daran haben, in den Ruinen herumzuklettern und die beste Position für Erinnerungsfotos zu finden. Wohin ich mich auch verdrücke, aus den Augenwinkeln merke ich schon, wie sich eine Gruppe an jungen Kerlen anschleicht, herumdruckst, bis sich der Mutigste vortraut und mich um ein Foto bittet. Einer, den ich frage, wieso er denn ein Foto haben will, kramt nach Worten: You look so…so und ich helfe nach: not indian? Ich bin mir nicht sicher, ob es das war, was er sagen wollte, aber er lächelt mit gesenkten Augen und setzt sich vorsichtig für ein Foto neben mich.
Der Ort ist wirklich zauberhaft und als ich ihn verlasse und mich am Weg zum Garden of five Senses mache, ist der Straßenlärm besonders unerträglich. Die Bürgerteige sind hier mehrere Meter breit und brechen manchmal direkt in den Waldbereich daneben auf. Das sind die Gebiete der Straßenleute, die hier ihre Baracken aufgeschlagen haben, ihre Zeltplanen und Wasserkanister, ihre Ziegen, Hunde und Hühner. Gleich hinter den Lagern häuft sich der Müll, der Geruch ist entsprechend. Ich drücke mich an einer dieser Siedlungen vorbei und werde von drei Mädchen aufgehalten, die vorher wollen, dass ich ein Foto von ihnen mache und nachher dafür Baksheesh verlangen, das ich vorsichtig aus dem Geldbeutel zupfe. Die Mädchen theatern mir das Geld aus der Hand und sind nicht der Meinung, dass ich sie für ihre Modeldienste genügend entlohnt hätte, ich schaue, dass ich weiterkomme und ignoriere die Hunde, die mir schlechtgelaunt und streitsüchtig folgen. Irgendwann verschwindet das Trottoir plötzlich in einer überwucherten Waldweg und ich bücke mich unter einem ebenso streitsüchtigen Busch durch, der mit seinen Dornenfingern in mein Haar greift und mich nicht so einfach loslässt. Ich reiße mich los und meine Lust, den Garten der fünf Sinne zu suchen, ist ebenfalls in dem gemeinen Gestrüpp hängen geblieben, vor allem, da die nächste U-Bahnstation endlich auftaucht und der Weg zum Garten verstaubt, eng und gerümpelig aussieht. Ich verschwinde lieber in den klimatisierten Untergrund und kaufe mir am Weg ins Hostel eine Trostpapaya, die mich ein bisschen aufmuntert.
Am frühen Abend traue ich mich mit erstarkter Abenteuerlust nach draußen (habe die Papaya vernichtet, geduscht, in dem Harry Potter gelesen, den jemand in der Hotelbibliothek zurückgelassen hat, ein Keks gegessen und mein Gesicht in das träge Flapflapflap vom Deckenventilator gehalten). Am Markt kaufe die letzten Souvenirs und erinnere mich an das herrliche Lassi, deshalb wandere ich zum Bahnhof hinauf. Dort spüre ich die ersten Tropfen und begehe den Fehler, nicht darauf zu achten, was die anderen tun. Die verschwinden nämlich als wären sie aus Zucker in diversen überdachten Nischen, während ich locker mit dem Fotoapparat in der Hand zu einem illustren Grüppchen schlendere, das sich unter einen Baum drückt und dreinsieht, als stünde die Rache Vishnus bevor.
Und dann kommt der Monsun. Es ist das erste Mal in diesen zwei Wochen (obwohl es Monsunzeit ist!), dass er richtig über mich kommt, nicht der zarte Nieselregen aus Kathmandu, es ist der zerstörerische, wilde Monsun, der Brücken weggeschwemmt und Mensch und Vieh ertränkt hat. Unter dem Baum wird es leer bis auf mich, denn ich bleibe fasziniert von den Wassermassen neben einem Handkarren mit Mangos stehen. Der Regen ist warm und weich, er durchbricht die aufgeheizte Luft wie Freudentränen und ich lasse mich von ihm einhüllen. Es dauert eine gute Viertelstunde in der der Monsun ungezügelt und leidenschaftlich herabschwallt, und ich bin nass, nass, nass. In einer kurzen Atempause marschiere ich mit großen Schritten durch die Lacken heim, an der Tür sitzen die Spanierinnen und unterhalten sich aufgeregt und der Hostelboy meint auf meine Schilderung der Ereignisse hin bedauernd: No good idea to hide under tree. Aber es macht nichts, es war ein Abschiedskuss des indischen Himmels, der mich als Ganzes umfasst hat. Ich winde meine Kleidung aus, ziehe mir etwas Trockenes an, nehme mir den Schirm und wage mich wieder nach draußen, weil ich Hunger habe. Der Regen ist zurück, so herrisch wie zuvor und die Straßen werden zu einem absurden Rennplatz von lackenspringenden Fußgängern, Motorrädern und Tuktuks, die zwar hupen, aber nicht direkt langsamer werden, auch wenn sie nicht sehen können, wohin sie fahren.
Ich erklimme die Stiegen zum Mount Everest Restaurant wo gerade noch ein Platz frei ist, dann schaue ich mit den anderen ängstlichen Wildromantikern hinaus in den Regen.
Mit einem Mal ist der Strom weg und die Dunkelheit wird johlend begrüßt. Der Restaurantbesitzer entschuldigt sich bei allen, dass der Generator nicht funktioniere und stellt Kerzen auf die Tische, derweil leuchtet der Himmel. Es sind nicht einzelne Blitze, die herunterkommen, viel mehr sieht es aus, als wäre das gesamte Himmelsdach aus Lichtentladungen gemacht, die in unterschiedlicher Frequenz aufzucken. Im Kerzenschein kommt mein Essen, es ist so finster, dass ich es nicht sehen kann, nur der Dampf vom Schwarztee kringelt sich im Gegenlicht. Umso köstlicher ist, was ich bestellt habe, ein Pilzchilli mit Reis und Roti, scharf und heiß und wunderbar. Was das Durcheinander der Straße noch unheimlicher macht sind die Scheinwerfer, die durch den Regen pflügen, das Geschrei von denen, die unterwegs sind und der Lärm der Wassermassen. Es ist ein seltsamer Moment und er vereint so vieles der letzten zwei Wochen, das Unerwartete, das Improvisierte und das Wunderbare.
Am Weg zurück stehen die Straßen unter Wasser, aber der Monsun ist verklungen, er hat sich von mir verabschiedet. Morgen Früh geht es auf nach Hause.