Verlorene Tage

Zwischen Weihnachten und Neujahr sind die Tage seltsam verwaschen. Sie verlieren ihre Namen und heißen Christtag oder Stefanitag und sie verlieren ihre Aufgaben und bekommen neue. In den Straßen streunen Touristen mit Stadtplänen. Sie bleiben an Hausecken hängen und stecken die Köpfe zusammen. Außerhalb von den Hauptstädten sind die Weihnachtsmärkte geschlossen, aber die Beleuchtungen noch angesteckt. Je weiter die Straßen hinausführen, desto verlassener wird es. Im Nachmittagsdunkel färben sich Baumstämme vom Nebel. Beim Gehen dämpfen sich die Geräusche zum eigenen Herzschlag und zum Atemholen in der scharfen Luft. Nichts bleibt von der Welt.

For my dear english readers: Give me the soft sigh, whilst the soul-telling eye, is dimm’d, for a time, with a Tear. 

 

 

Sigulda,Cēsis, Saulkrasti//Außerhalb, wo die Menschen aufhören

Riga Umgebung

Sigulda, wie herrlich das klingt, Sigulda im Mischwald, am Flussufer der Gauja. Wer in Sigulda eigentlich leben müsste, sind Frauen mit langen Zöpfen,mit geröteten Wangen und kräftigen Fingern und Rocksäumen, die beim Gehen über die Wiesen schleppen, und Männer, die im Sommer sonnenbraun sind und im Winter Schneeflocken in den Bärten haben. Die müssten hier leben und in Turaida und Krimulda, den anderen Stadtteilen, die nach Sagen klingen, und einen Hof müsste es noch immer geben, wo Pferde für das Tjostieren in den Wappenfarben geschirrt werden und Goldborten auf Ärmel genäht sind.

Sigulda

Aber vor dem Autofenster ziehen, sobald Riga nach Nordosten verlassen ist, die Wälder vorbei und Sigulda liegt in Spätsommerruhe. Die Parks sind leer und beim neuen Schloss haben die Rosen ausgeblüht.

Gutmannshöle Lettland

Dafür sammeln sich vor der Gutmannhöle, diesem seltsamen Sandsteingebilde mit den tags früherer Besucher spanische Touristen und machen Fotos, betasten die feuchten Bröselwände und verschwinden gesammelt wieder, ohne den Naturpfad weiter entlang gewandert zu sein.

cesis

In Cēsis ist herrscht nachmittägliche Ruhe. Am Hauptplatz wechseln Kleinstgruppen, auf der Baustelle neben der Kirche ist auch niemand, der Lärm machen würde. Ein Bub ist unterwegs und trägt sein Hündchen, dann rührt sich lange Minuten nichts. Das ist Cēsis an einem Septembernachmittag, Schwalben am Himmel, Häuser im Prozess der Restauration oder des stillen Verfalls, das könnte jede Kleinstadt sein, überall.

cesis

altes Gebäude Lettland

Cēsis Stadt

Cēsis Burgruine Castle

Und dann gibt es noch die Ordensburg, also, die Ruine der Ordensburg. Am Eingang bekommt man eine Laterne, um in der Dunkelheit der Wendeltreppe nicht verloren zu gehen, wenn man zum Dachstuhl des Turms hinauf will. Von oben aus kann man ins Land schauen, so wie die deutschen Kreuzritter des Schwertbrüderordens damals vor 800 Jahren. Und wahrscheinlich haben sie das gleiche gesehen:Cēsis Blick von Ordensburg

Und dann, irgendwo am Weg zwischen Valmiere und Saulkrasti zerfällt die Landschaft in Feld und Wald und Landstraße. Manchmal taucht ein Hof auf, mit Obstbäumen und Wäscheleinen, aber meistens bleibt es ruhig und leer.

Riga Umgebung

 Die Sonne geht lange unter, weil es so flach ist, und am Rand, dort fällt sie nicht ins Wasser, sondern zelebriert ihren Abgang in die Nacht.

Saulkrasti Beach

Saulkrasti Beach Sonnenuntergang

Saulkrasti Sunset

Wien// Donauinsel

Wir haben uns eine Insel gebaut. Dort, wo vor fünfzig Jahren noch der Fluss in seinen Verästelungen über das Land geschwemmt ist, herrscht seit den 1970er Jahren Regulation. Die Hochwasserkatastrophen wichen dem künstlichen Damm, den Fahrradwegen und Grillplätzen, den 2 Millionen Bäumen und 3 Millionen, die das jährliche Donauinselfest bevölkern, den Hasen und Bibern und Schwänen, den Wildanglern und FKKlern, den gemauerten Tisch-Bank Ensembles und SonnenanbeterInnen und den Liebesnestern aus umgetretenen Gras. Auf der Donauinsel verschwindet die Stadt hinter den Silberpappeln.

to my dear english readers: all my days I will sing in praise of your forest, waters, your shining sand.

 

Oberhalb bleiben

Besucherin

Nach der Blüte des Jahres, den warmen Tagen die sich erst so spät von der Nacht verdrängen lassen, dünnt die Natur aus und gleitet in die Starre der Endmonate. Da braucht es keine weinselige Spätnachtlaune, um das Sterben des Jahres mit der eigenen Endlichkeit in Verbindung zu bringen und auch die Tatsache, dass die Auslagenmaschinerie schon seit einem guten Monat auf Weihnachten hinarbeitet, kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass jetzt die dunklere Zeit angebrochen ist.

Blumen

Als wäre nicht in den mittleren Wochen des Jahres Zeit genug dafür gewesen, die Toten zu besuchen (und anschließend vielleicht eine Runde schwimmen zu gehen oder sich einen Bananensplit zu gönnen) zieht es uns (ausgerechnet) jetzt zu den Gräbern. Allerheiligen steht an, ein großer christlicher Feiertag, und dafür beleben sich die Friedhofsreihen und die Brachflächen vor den Mauern, wo plötzlich neben den üblichen Friedhofsblumen Gestecke und Kränze verkauft werden, die sich in den letzten Jahrzehnten vom Aussehe her wohl nicht verändert haben. Schon an dem Wochenende vor Allerheiligen ist eine gewisse Unruhe spürbar, eine Bevölkerung der Parkplätze. Wer jetzt die Vorarbeitet leistet, muss eine Woche später nichts mehr tun, als eine Kerze anzuzünden und die Hände vor dem Bauch zu falten.

Besucher

Zuvor aber spucken die Busse und Straßenbahnen die ältere und sehr alte Herrschaften aus, die mit Werkzeug hin zum Friedhof unterwegs sind, welches man dort das restliche Jahr über kaum sieht: Besen, Schaufeln, Wischfetzen, Drahtbürsten, Kisten mit Seidenblumen, Stiefmütterchen und gerade erstandenen Gestecken, Viererpack Grabkerzen. Es sind lange Tage für sie, denn selten liegen alle Verwandten auf nur einem Friedhof, aber was erledigt ist, ist erledigt, darum ziehen sie sich die Jacken aus und legen sie über die Grabsteine, verrichten gebückt ihre Restaurationsarbeiten und gehen zwischendurch den kurzen Weg zum Kompost und zum Brunnen, wo sie die Plastikgießkannen mit der Aufschrift des Blumenverhändlers, der sie zur Verfügung stellt, in das Grundwasser tauchen.

OmaOpaamGrab

Selten treffen sie andere, die sie kennen, und wenn wird dabei kaum geredet, es ist eine schweigsame, notwendige Arbeit, die mit der gegebenen Miene verrichtet wird. Die Gedanken kreisen zwischen dem Bodendecker und den Toten, die darunter liegen. Zum Abschluss wird die rote Kerze angezündet und in die Erde gedrückt, oder in die Laternenfassung gestellt und es nähert sich der kritische Punkt. Wird noch kurz innegehalten und ein still ausformuliertes Gespräch mit den Geschiedenen angefangen? Drängt sich Vision des eigenen Begräbnisses auf und werden die Besucher betrachtet, wie sie um das Loch im Boden stehen und Rosen werfen? Wird ein flüchtiger Vorsatz gefasst, im Kommenden etwas besser zu machen (hier wirkt er ehrlicher als an Silvester, wo Vorsätze aus einem seltsamen Gruppenzwang heraus aufgeschrieben werden oder damit die Zeit bis Mitternacht schneller vergeht)? Oder wendet sich der Blick vom Grab ab, sobald der letzte Handgriff erledigt ist und suchen die Schritte den Ausgang. Wie auch immer es passiert, der Tod gehört jedem selbst. Ein Vorwurf ist hier niemanden zu machen, nicht denen, die Stunden an den Gräbern verbringen, nicht denen, die gleich wieder gehen und auch nicht denen, die erst gar nicht kommen.

Südwestfriedhof