
Wien und Indien sind weit auseinander, das weiß man, Delhi ist nicht Hartberg und nicht Wörgl und nicht Dresden oder Sizilien, es ist nicht Europa, es ist weit. Und dass es anders ist, weiß man. Dass es nicht ist wie Simmering oder Barcelona oder Bukarest. Dass Delhi groß ist weiß man. Dass es geschätzte 16 Millionen Einwohner hat. Dass das zweimal so viele Einwohner sind wie in ganz Österreich leben. Dass es laut ist, hat man gehört. Dass es geschäftig ist. Dass es dort neben großem Reichtum noch viel größere Armut gibt. Dass Frauen buntes Gewand tragen und Männer mit Rikschas fahren, dass Kühe zwischen den Markständen stehen und dass so viele Menschen in dem Land sind, dass sich der Staat nicht um jeden kümmern kann. Das weiß man, wenn man Reportagen gesehen, oder Berichte gelesen oder von Freunden gehört hat, die dort waren.

Sobald man den Flughafen verlässt, bleibt von dem, das man weiß, weil man sich informiert hat, eine zartseitige Erinnerung, die sich in den Hinterkopf drängt und dort sofort von den echtempfundenen Eindrücken zerdrückt wird.
Nach zwölf Stunden Reise sind die Körperfunktionen verdreht. Der Kopf hat vergessen zu schlafen und sendet Aufgeregtheitssignale, die in die Nervenzellen fahren und das Herz anpumpen. Aus dem klimaanlagenerkalteten Flughafen hinaus ist, als betrete man ein Dampfhaus im vollen Gewand. Der Taxifahrer, der mich abholt und ins Hotel fährt bringt mir schnell den ersten Grundsatz der Straße bei: „You don’t wait. Just go.“ Eine Verkehrsphilosophie die Europa höchstens in Rom zur Stoßzeit kennt, uns selbst dann in abgeschwächter Form. „Just go“ könnte transkribiert werden als: hupe und erschaffe eine Lücke, nutze die Lücke und überhole jedes Gefährt, das weniger PS hat oder kleiner ist. Bremse erst im letzten Moment (manche Fahrzeuge warnen davor, Abstand zu ihnen zu halten: Sharp breaks! Keep Distance!“) oder bremse gar nicht, navigiere das Gefährt, als hinge dein Leben davon ab, schneller als das Vehikel neben dir zu sein, ignoriere Ampel größtenteils und hupe noch ein bisschen mehr. Auf der Suche nach Sicherheitsgurten meint der Fahrer: „Safty belt no problem“, was leicht gesagt ist, weil Sicherheitsgurt erst gar nicht vorhanden. Die Straßen vom Flughafen weg sind breit und werden enger, je weiter wir fahren. Wir zwängen uns durch einen Bazar, der bunt und laut ist und an der engsten Stelle bleibt der Fahrer stehen, weil er einparkt. Am Weg zum Hostel nehmen wir zwei Nebengassen, eng genug, dass ich mit eineinhalb Mal Arme-Ausstrecken die Fassaden berühren könnte und trotzdem rumpeln uns Mopeds und Rikschas entgegen. Ich habe das Gefühl, nie wieder heraus zu kommen, geschweige denn, was doch immer die eigentliche Herausforderung ist, wieder zurück zu finden. Aber nach der Zeit, die man sich mit dem Jetlag im Genick nach der Ankunft gönnen muss, um nicht schon nach den ersten zweihundert Bazarmetern zu scheitern, bitte ich den Rezeptionisten zum dritten Mal, wie der Weg zur Ubahn nun wäre. Und dann hinaus.

Es ist heiß, so unfassbar, dass es einem durch den Scheitel und durch die Brust dringt. Dazu die Feuchtigkeit. Es ist laut, so unfassbar, dass es durch die Schultern und Halswirbel direkt ins Hirn sticht und es riecht nach allem, wonach es riechen kann. Es riecht nach Indien und jeder, der schon in Delhi war, weiß jetzt wahrscheinlich, was ich meine. Es ist ein Geruch, der überall wabert und der sanft und scharf und süß ist. Es riecht nach frischen Mangos, nach Benzin, nach Räucherwerk, warmen Plastik, Schmieröl, Männerparfum, nach Menschendung, Jasmin, frittiertem Blätterteig, nach offenen Latrinen und Essensabfällen, nach trächtigen Hündinnen und Holzkohle, nach warmer Milch und mageren Kindern, Silberschmuck und Haschisch, nach Gold und Rot und Grün, nach zu viel Sonne und staubigen Asphalt. Die Häuser sind zweistöckig, den oberen Etagen fehlt oft die vierte Wand, offene Öfen, Schneiderein, dazwischen Wäscheleinen, eine Baustelle und Männer schleppen, Frauen schleppen, nackte Kinder spielen im Beton mit Beton, Rikschas, Fahrräder, Autos, Fußgänger, Hello Madam, Excuse me Madam, nice scarf, Madam, warme honiggetunkte Brötchen, weiter vorne frisches Lassi von der Straße, am Boden auf Zeitungspapier Verkäuferinnen mit ihrer Ware, where are you from? Which country? Oh Austria, Vienna! Nice country! Als ob sie dort gewesen wären, aber so freudig und dann ein paar Brocken Deutsch, Hallowiegehts! Das Anfahrgeräusch von Mopets und das ständige Gehupe, dann die Rufe von den Verkaufenden, dazwischen steht ein weißes Rind mit gedrehten Hörnern vor einen Wagen gespannt. Es hat Ketten um den Hals und ist mit rotem Henna bemalt. Es steht und wackelt mit den Ohren und kaut und blinzelt, wenn sich Fliegen neben seine großen Augen setzen. Ich stehe lang neben ihm, weil sich da ein kleiner Freiraum ergeben hat, eine umschwemmte Insel. Das Tempo geht weiter, in einer Flaute rutsche ich wieder hinein in die Straße und lass mich zur Ubahn spülen, die ich trotz meiner Orientierungskrise finde.

Ich kaufe ein Token für die Fahrt, eine Plastikmünze im Wert von circa 15 Rupien, es funktioniert elektronisch. Durch die Körperkontrolle, das ist einmal was, dann kommt der Zug, ein moderner, schöner Zug. Hier ist Geld investiert worden. Drinnen, die erste richtige Erlösung, kalte Luft und weniger Menschen, als befürchtet. Eine Staion, umsteigen an einer Schnittstelle und dort erinnert werden an New York, da waren damals auch so viele Menschen und heiß war es auch, dann hinunter zur Central Secretariat, nach oben spülen lassen und den falschen Ausgang erwischen. Where wanna go Madam? India Gate? Too hot! Very far! Two kilometers! Only 10 rupies! Die Rikschafahrer haben ihr Geschäft gelernt, ich steige ein und ab die Post zum Gate, der Fahrer zählt auf, wo er mich noch hinbringen kann und was ich noch anschauen soll. Ich sag ihm, dass ich nur beim India Gate aussteigen will, um Fotos zu machen und dass ich später den Weg zum Präsidentspalast gehen werde, er schaut unglücklich drein, aber bleibt am Rand der Spur stehen.

Das Gate ist dem Arc de Triomphe nachempfunden, zumindest stand das irgendwo und wahrscheinlich hat es ein Franzose geschrieben auf jeden Fall ist es riesig und unindisch. Männer mit Polaroidkamaras bieten an, Fotos zu machen, eine Frau ist an meiner Seite und will mir eine Hennazeichnung auf die Hand malen, ich fliehe zurück auf die andere Seite, auf dem Walk of Power, der breiten Triumpfstraße. Ich könnte im Schatten der Bäume gehen, lasse es aber bleiben, weil ich dort von jeder Männergruppe angeredet werde, die es sich auf der Wiese bequem gemacht hat und nutze den breiten Rasenstreifen zwischen Straße um Kanal. Trotzdem halten mich zwei Burschen auf und wollen ein Foto mit mir machen, nachher lachen sie, als ich ihnen sage, das kostet jetzt 10 Rupien. Der Weg zur Ubahnstation ist unerträglich heiß und lang, dann wieder durch den Bazaar nach Hause und von den drei Stunden Schlaf in mehr als dreißig Stunden Wachen nicht genug unterstützt dusche ich mir zu Hause den Staub und den Schweiß herunter, die zweite Erlösung an dem Tag, Hand in Hand mit dem Eiskastenwasser von der Rezeption, dann schlafe ich und träume seltsam. Am Abend besuche ich das andere Ende des Bazaars, dort, wo der Bahnhof beginnt und ich setze mich auf einen gemauerten Pflock und beobachte die Straße, bis es dämmert.
Am Abend störe ich einen der Hostelmitarbeiter, der gerade duscht, als ich auf das Dach hinaustrete, wo er seine Wohnung hat. Er lacht und sagt, dass ich nur zum Gitter vorgehen soll, dort ist die Sicht schön, dann seift er sich noch einmal ein und schöpft aus einem Kübel Wasser über seinen Kopf. Der Himmel ist gelb und rosa, dann wird er blaugrau. Auf den Dächern stehen Scherenschnitte von Männern und lassen Drachen steigen, weiter unten trainiert ein Mann mit einer Hantel, neben ihm läuft das Radio. Das Hupen ist weniger geworden.