Wenn der Wald im Winde rauscht, Blatt mit Blatt die Rede tauscht, möcht ich gern die Blätter fragen: Tönt ihr Wonne? Tönt ihr Klagen?
Justinus Kerner 1786-1862/ Der Grundton der natur
Wenn der Wald im Winde rauscht, Blatt mit Blatt die Rede tauscht, möcht ich gern die Blätter fragen: Tönt ihr Wonne? Tönt ihr Klagen?
In der Früh ist es im Zimmer so kalt wie draußen, das heißt 11 Grad. Der Fließenboden klebt an den nackten Füßen und das Frühstück auf der offenen Terrasse kühlt schneller aus, als man es essen kann, diesmal gibt es Nudelsuppe, die wärmt. Um neun treffen wir uns, um unsere Tour zu starten und werden zu einem eine halbe Stunde entfernten Punkt gebracht, von wo es ins Gelände geht. Es ist kein Pfad, der von der Wiese abzweigt, sondern ein alter Ziegenweg aufwärts, und schnell wird klar, dass es keine Spazierwanderung ist. Karstigen Steine bilden den Untergrund und stehen in unregelmäßigen Abständen. Ihre Oberflächen sind so scharf, dass man sich die Finger aufschürft, wenn man nicht vorsichtig hingreift und nach oben hin werden sie zu Speerspitzen. Immer wieder öffnen sich Höhlen zwischen ihnen, die in das Innere der Berge führen, losgetretene Stein fallen metertief, bevor man ihren Aufschlag hört. Wir arbeiten uns nach oben, zu einem Aussichtspunkt, und wieder nach unten, nach oben, nach unten über die scharfseitigen Steine und über rutschiges Laub.
Kein Schritt kann gedankenlos gesetzt werden, immer muss der nächste Ast, die nächste fingertiefe Steinnische im Blick sein, bevor man das Gleichgewicht verlagern kann. Aus dem Gehen und Suchen wird ein meditativer Akt, das Hirn klingt sich aus und funktioniert nur noch als Navigation zwischen den Yuccapalmen, wildem Ficus und Mangroven, wie Affenhände an den Ästen, nach einem Blick ob es Dornen gibt oder nicht. Nach einiger Zeit passiert dann das, wovor sich jeder fürchtete, einer der Gruppe rutscht aus und stürzt. Es knackt und rauscht, er überschlägt sich und landet mit dem Rücken auf Steinen. Das Geräusch schreckt alle auf und erst als er wieder auf die Beine kommt und versichert, sich nichts gebrochen zu haben, geht es weiter. Er ist ein Arzt aus Chile, später wird sein Knöchel um das doppelte anschwellen und ihm die verbleibende Strecke zusätzlich erschweren.
Sechs Stunden geht es durch das Gelände, bevor die Beine so zerkratzt und sauer sind, dass ich Angst habe, auszurutschen, aber dann kommt die größte Herausforderung, die darin besteht, eine sechs Meter abfallende Wand hinunter zu kommen, ohne auf diejenigen zu fallen, die schon vorausgeklettert sind.
Die Steine beißen in die Handflächen und schaben über Ellenbogen und Schienbeine, Reiseerinnerungen für später. Als uns der Dschungel wieder auf die Wiese spukt, die plötzlich hinter dem Blättergewirr auftaucht, gibt es ein Hallo in der Gruppe, alle haben es geschafft. Steifbeinig geht es an den Wasserbüffeln vorbei, zurück zur Ausgangsstation.
Am Abend sitzen wir gemeinsam beim Essen und können nicht aufstehen, ohne mit den Gelenken zu krachen. Den nächsten Tag, so beschließen wird, wird aufs Kletterwandern gepfiffen.
Der Tag beginnt um 3:30. Als ich in die Rezeption herunterkomme, wecke ich Dipendra Mukhiya, den Rezeptionisten, der dort auf einer Bank schläft, die vierzig Zentimeter kürzer ist als er. Dipendra hat für wenige Sekunden die Aufmerksamkeit eines Wachhundes, kuschelt sich aber wieder zurück in seine unbequeme Situation sobald er sieht, dass keine Gefahr droht. Mein Guide Kapil ist schon da, er nutzt noch das WI-FI und tippt in das Asus Notebook, das er später auf den Berg mitnehmen wird. Er klopft den Fahrer aus seinem Zimmer, Dipendra wacht wieder auf, wünscht mir have a good flight, und wir starten kurz vor 3:45 hinaus in die Nacht. Die Straßen offenbaren im Scheinwerferlicht ihre Buckeln, dazwischen liegen wie lebendige Verkehrsinseln die Hunde, die genug gelärmt haben in den Stunden zuvor (sobald die Nacht da ist, sind die Hunde aktiv und kommentieren lautstark die Angriffsstrategien verfeindeter Rudel) Straßenbeleuchtung gibt es nicht, nur die Werbetafeln an manchen Häuserfronten leuchten den Weg. Wir fahren fast eine Stunde hinaus aus dem Tal nach Nagarkot und treffen am Weg tatsächliche Jogger, die durch das dämmrige Dunkel unterwegs sind. Am Ziel steigen wir hinauf auf die oberste Terrasse des View Point Hotels.
Die Nacht ist blaugefächert und die Wolken sind eisgraue Berge, die über die Wälder hereinrollen. Vögel singen die Morgenlieder, sonst sind noch die chinesischen Touristen zu hören, die auf einem anderen Balkon ihre Stative für das perfekte Sonnenaufgangsfoto stationieren. Nur dass die Wolken Spielverderber sind und die Sonne beschließt, hinter ihnen noch eine Runde zu schlafen. Die Schattierungen werden kräftiger und heller, gegen halb sechs hat sich das klare Tageslicht durch das schummrige Traumland gekämpft und Kapil und ich beginnen den Abstieg. Es ist angenehm kühl und der Morgenwind schmeichelt.
Wir wandern die Bergstraße hinunter und ich erzähle ihm, dass die Außenamtsseite Österreichs vor „versplitterten Maoistengruppen“ warnt, die in den Bergen, Zitat, ihr Unwesen treiben. Kapil denkt, dass es jetzt keine Maoisten mehr in den Bergen gibt, dann beginnt er vom Bürgerkrieg zu erzählen. Die nepalesische Monarchie war eine Bremse für Weiterentwicklung und Gleichstellung im Volk und als in 1990 das Mehrparteinsystem wieder eingeführt wurde, gab es so viele Parteien mit so vielen unterschiedlichen Forderungen, dass niemand den Durchblick hatte, meint Kapil, der König blieb trotzdem und die Regierung war korrupt. Dann, er muss erst rechnen, weil sein Kalender ein anderer ist als der Westliche, in 2001, wurde im Königspalast (der heute ein Museum ist) ein Ball gegeben. Alle wichtigen Gäste waren dort und die gesamte königliche Familie. Der Kronprinz Dipendra hatte getrunken und Haschisch geraucht, angeblich gab es Streit. Um Mitternacht eröffnete er das Feuer auf seine Familie und tötete insgesamt acht Menschen, also König und Königin, seinen Bruder, vier Prinzessinnen und einen Prinzessinengemahl. Anschließend habe er sich selbst erschossen, sei aber nicht sofort gestorben. Im Spital wurde er zum König erklärt, schließlich war er Kronprinz, aber nur drei Tage später starb er und sein Onkel Gyanendra wurde zum neuen König. Kapil erzählt zuerst die offizielle Fassung, dann meint er, dass das Volk große Zweifel habe, denn der Kronprinz war Rechtshänder gewesen und an einem Schuss durch die rechte Schultergegend gestorben, außerdem war auf den Überwachungsvideos, die nur unter der Hand kursierten, zwar ein Amokläufer zu sehen, der aber trug eine Maske. Außerdem hätte Gyanendra nicht auf den Thron steige können, wäre Kronprinz Dipendra nach dem Attentat nicht König geworden.
Kapil vermutet, was die meisten glauben, dass Dipendra an Ort und Stelle verstarb und tot zum König erklärt wurde, damit die Monarchie mit dem Tod des alten Königs Birendra nicht verlöschen musste. Kapil erzählt weiter, dass Gyanendra sofort nach seiner Krönung alle vorher mühsam erkämpften Forderungen nichtig gemacht hatte und dass das Volk in den Generalstreik trat. Neunzehn Tage lag rührte sich nichts in Kathmandu, die Lebensmittel gingen aus und Protestierende wurden getötet. Er selbst bekam ein Gummigeschoss in die rechte Brust und hat jetzt noch Narben von der Wunde. Kapil erzählt, dass der König erst spät auf die Forderungen des Volkes einging und dass die Maoisten damals Standpunkte vertreten hatten, die gut waren, aber dass sie später in die Berge geflüchtet sind und sich ihren Lebensunterhalt von Touristen erstritten hätten, was für den Tourismus wiederrum eine Katastrophe bedeutete. Im November stehen die nächsten Wahlen an, sagt Kapil, aber er weiß nicht, wen er wählen soll, da zu viele kleine Parteien an den Start gehen würden. Zuversichtlich ist er nicht, aber die Hoffnung will er noch nicht aufgeben.
Wir kommen durch Dörfer, deren Häuschen direkt an den Weg gebaut sind. Ziegen stehen auf den Terrassen und Kücken folgen ihren dicken Mamas. Es wird an den freien Wasserleitungen geduscht, Nepali-Style, wie Kapil grinsend meint, auch im Winter. Die Natur ringsum ist überquellend, es wird Mais angebaut oder in den tieferen Lagen Reis, dazwischen sind die scheinbar ewigen Dschungelhänge, die ganze Bergseiten in ihrem Grün bedecken. Es geht bergauf und Kapil, der die Statur eines äthiopischen Langstreckenläufers hat, gazellt voraus, ich, darum bemüht nicht wie eine Dampflokomotive zu klingen, folge ihm eifrig. Als es wieder flacher wird schließe ich rotgefleckt zu ihm auf und stelle beruhigt fest, dass er auch den Schweiß auf der Stirne stehen hat.
Nach etwa drei durchwanderten Stunden gelangen wir schließlich zum Tempel Changunarayan. Es ist eine Anlage aus 400 nach Christus und der Holzbau ist faszinierend anders als die strahlende Stupa von Swayhambunath. Hier fehlen die Chinesischen Touristen und die Affen, und die Ruhe ist köstlich. Wir umrunden den Tempel und Kapil erzählt mir einiges zu den Statuen, dann malt er sich und mir die rote Opferfarbe eines Gottesbildes auf die Stirne. Ich bin so stolz auf den roten Fleck, wie man stolz sein kann auf die Wanderung, diese ganze Wanderung von Wien hierher.
Der Fahrer liegt in dem alten Tata und hört Radio, Kapil raucht noch eine letzte Zigarette, bevor wir einsteigen, dann fahren wir nach Hause. Aus dem Nichts hat sich der brüllende Verkehr auf den Straßen manifestiert. Kapil dreht sich am Sitz nach hinten und fragt, ob ich müde sei, keine vier Minuten sehe ich, wie sein Kopf zur Seite sinkt. Auch die quälendsten Mopedhupen wecken ihn nicht und er streckt sich erst wieder aus dem weichen Autositz, als wir zurück im Thamel sind.
Am Nachmittag mache ich noch einen Spaziergang hinaus, ich wandere zum Hanuman Dhoka, einem Komplex von Palästen, Tempel und Museen, die als Weltkulturerbe eingestuft wurden. Wahrscheinlich liegt es an meiner Müdigkeit, dass sich ein Unwillen entwickelt, 750 Rupien Eintritt zu berappen, und dieser Unwillen wird verstärkt, als ich knapp vor dem offenen Durchgang von einem Wachmann aus der Menge gepickt werde, wie die Maus aus dem Getreidefeld, um mein Ticket vorzuweisen. Dass alle anderen rein und rausspazieren können, ohne kontrolliert zu werden, ob sie denn etwas gezahlt hätten steigert meine Laune, den Preis, der in etwa drei üppigen Abendessen entspricht, zu lohnen, nicht direkt und ich gebe mich damit zufrieden, ein Foto aus der Ferne zu machen und im leichten Nieselregen den Weg nach Hause durch das aufgeweichte Labyrinth des Indra Chowks zu nehmen.
Man verlässt Las Vegas mit dem Gefühl, dass die Party weiter geht. Durch das Valley of Fire geht der Weg weiter in den Zion und den Bryce Canyon. Wieder verändert sich die Landschaft im Laufe der Kilometer, die über einspurige Freeways abgespult werden. Zuerst Wüste, die Felsen sind rot, dann wird es bergig und kühler. Ein Trail führt in den Zion Canyon und am Ende denkt man, man wäre in Bruchtal und erwartet, die Elben zu sehen.
Die Kante des Felsen, auf dem man steht, reißt jäh ab, dahinter geht es hunderte Meter nach unten. Mormonen haben das Gebiet der jetzigen Nationalparks in den 1870ern für sich gewonnen, viel früher gab es Natives, die das Land bebauten. Der Bryce Canyon heißt so, weil Ebenezer Bryce das Gebiet mit seiner Familie besiedelte, vor etwa hundertfünfzig Jahren.
Hoodoo heißt in Navajo so viel wie Zauber und Hoodoos sind auch die Steinformationen im Bryce Canyon, die aufragen wie erstarrte Krieger. Die Landschaft ist einzigartig und am Aussichtspunkt, dem Sunset Point, warten die FotografInnen darauf, dass endlich die Sonne untergeht.